Smartphone-Sucht: Erfahrungsbericht
- Katharina Hiller

- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Tag
Sind wir alle smartphone-süchtig? Das Smartphone ist unser ständiger Begleiter, für viele wie eine Art zweites Gehirn und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Nicht zu Unrecht kommt daher bei vielen der Wunsch auf, ab und zu auch mal ohne Handy aus dem Haus gehen und sich mit Digital Detox zu schützen vor einer zu starken Abhängigkeit von unserem digitalen Zweithirn.

Ich selbst habe dieses Experiment auch immer wieder auf unterschiedliche Weise durchgeführt. Mal ohne Handy aus dem Haus gehen, mal bestimmte Apps für eine Weile löschen oder limitieren, die Push-Nachrichten von allen Apps ausschalten oder smartphonefreie Zonen in meinem zuhause zu definieren. Und bei all diesen Versuchen habe ich erinnerungswürdige Situationen erlebt. Zum einen haben sie mir gezeigt, wie schwer es ist, den Smartphone-Konsum in der heutigen Welt zu reduzieren – und wie häufig man das Gerät tatsächlich braucht. Zum anderen habe ich paradoxerweise festgestellt, wie häufig man das Smartphone dann eben auch nicht braucht – und wie gut es sich anfühlen kann, ohne digitale Ablenkung voll und ganz im Moment zu sein.
Ohne Smartphone im Alltag: Wenn ein Spaziergang zum Abenteuer wird
Meine ersten Versuche, das Haus ohne Smartphone zu verlassen, waren merkwürdig. Ich fühlte mich seltsam nackt und ungeschützt. „Was ist, wenn mir etwas passiert?“, dachte ich. „Wem kann ich dann Bescheid geben?“ Gleichsam merkwürdig war es, dass ich mich fühlte, als würde ich ein Abenteuer erleben, eine neue Seite des Lebens entdecken und - so dramatisch es klingt -vielleicht sogar mich neu entdecken? Ich fühlte mich ungewohnt frei. Frei von der Möglichkeit, erreichbar zu sein und frei von der Möglichkeit, dass irgendetwas oder irgendjemand außer mir selbst bestimmt, was in den nächsten Momenten meines Lebens passieren wird. Gleichzeitig fand ich mich auch ein wenig erbärmlich. „Es ist nur ein Gerät“, dachte ich. „Wie kann es sein, dass ein kleiner Gegenstand eine derartige Wirkung auf mich hat?"
Meine erste Quittung bekam ich schnell: Ich befand mich auf einem neuen „Abenteuer“ und habe es gewagt, ohne mein Smartphone einkaufen zu gehen. Der Supermarkt befand sich in der Nähe von meinem Zuhause und der Einkauf war schwer. Also entschloss ich mich kurzerhand, die zwei Stationen nach Hause mit dem Bus zu fahren. Ich dachte mir nichts dabei, als ich den Kontrolleur auf mich zukommen sah bis ich panisch nach meinem Handy suchte und feststellte, dass ich gleich beim Schwarz fahren erwischt werden würde. Kein Smartphone, kein Ticket. Zumindest in meinem Fall – das Deutschland-Ticket habe ich nur digital. Am Ende hatte ich den Eindruck, dass der Kontrolleur es irgendwie sympathisch fand, dass ich mein Handy vorsätzlich zuhause gelassen hatte. Es war überraschenderweise eine nette Begegnung, obwohl ich kein Ticket zeigen konnte. Am Ende zahlte ich eine verkraftbare Bearbeitungsgebühr von 7,00€. Es war eine interessante Erfahrung. Zu merken, wie natürlich es für mich war, ohne Handy unterwegs zu sein, um kurz darauf festzustellen, wie gedankenlos und durchaus problematisch es auch sein kann, nicht auf den alltäglichen Begleiter zugreifen zu können. Und dann wiederum zu bemerken, dass es dann doch nicht so schlimm war.
Apps mit Suchtpotenzial löschen: Die unbewusste Antwort des Gehirns
Immer wieder habe ich ein paar meiner Apps gelöscht, um mir und meinem Gehirn ein wenig Erholung zu gönnen. Und interessant war, was dann passiert ist: Mein Gehirn schien nach einer Art Ausgleich zu suchen. Wie automatisch fing mein Finger an, stattdessen auf einmal auf andere Apps zu klicken, die ich sonst so gut wie nie nutzte, wie z.B. die Wetter-App oder die Bilder-Galerie. Statt süßen Hundevideos auf Instagram studierte ich auf einmal die Erlebnisse meiner letzten Wochen. Oder ich vertiefte mich anderweitig in irgendwelche Themen und Tätigkeiten, die mich eigentlich überhaupt nicht interessierten - auf Dauer also auch keine sinnvolle Lösung. Dennoch eine Erkenntnis, die mich ein wenig über mich selbst schmunzeln ließ.
App-Limits: Entscheidende Momente der Smartphone-Sucht reflektieren
Bestimmte Apps vollständig aus meinem Leben zu verbannen, war irgendwie keine zufriedenstellende Lösung für mich. Also testete ich weiter. Mit meinem Ergebnis bin ich bis dato ganz zufrieden. Mittlerweile nutze ich App-Limits. Jedes Mal, wenn ich auf ausgewählte Apps klicke, erscheint ein kleiner Warnhinweis und ich habe 10 Sekunden Zeit, um mir zu überlegen, ob ich die App im jeweiligen Moment tatsächlich nutzen möchte.
Auch hier musste ich besonders anfangs oft über mich selbst schmunzeln. Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich ganz automatisch und aus Gewohnheit auf bestimmte App-Icons geklickt habe und erst durch das App-Limit bemerkt habe, was ich gerade unbewusst getan hatte. Im Laufe der Zeit wurden diese Momente seltener. Dennoch ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich auf Instagram klicke, obwohl ich eigentlich gar keine Lust darauf habe. Zehn Sekunden nachzudenken und dafür zu vermeiden, womöglich viele unnötige Minuten mit etwas zu verbringen, auf das ich vielleicht überhaupt keine Lust habe, finde ich einen fairen Deal für mich.
Warum Smartphone Detox? Digitalem Stress begegnen
Woher kam überhaupt mein Drang, meinen Smartphone-Konsum zu reduzieren? Ich erinnere mich noch gut daran, wie es war, als ich den damals noch recht unbekannten Begriff Digital Detox ein wenig belächelt habe. So wirklich verstehen konnte ich es nicht, weshalb Menschen sich Abstand wünschen von ihrem Smartphone.
Das änderte sich bei einer Projektarbeit, bei der einige Leute beteiligt waren und bei der die Kommunikation über WhatsApp lief. Kaum ein Abend verlief ruhig, manchmal ploppten die Push Nachrichten im Minuten-Takt auf und irgendwann schreckte ich bereits jedes Mal auf, wenn ich nur den Ton der WhatsApp-Benachrichtigung hörte. Mein Gehirn war fast dauerhaft im Alarmzustand.
Die Forschung legt nahe, dass digitaler Stress und die damit verbundene Flut an Informationen schnell zur Überstimulation führen können. Jedes Mal, wenn wir neue Inhalte – etwa in sozialen Medien oder per E-Mail – konsumieren, feuern unsere Neuronen. Diese ständige Stimulation überfordert unser Gehirn auf Dauer. Zu viele digitale Reize können das Gehirn in einen Dauerstress versetzen, der kognitive Überlastung und damit auch Konzentrationsstörungen und Müdigkeit nach sich zieht. Durch diesen Zustand der Überreizung kommt es zu einem Phänomen, das als kognitive Ermüdung bekannt ist. Das Gehirn fällt dabei immer wieder in einen Alarmzustand, weil es jede neue Information als potenziell wichtige Neuigkeit betrachtet und blitzschnell verarbeitet.
Smartphone-Sucht und digitaler Stress: Die Forschungslage
Mehr als jeder zehnte Jugendliche zeigt Anzeichen für ein suchtartiges Verhalten im Umgang mit sozialen Medien. Diese Zahlen veröffentliche die WHO 2024 in einem Bericht. (▷Quelle) Die Zahlen basieren auf einer Studie, bei der über eine Viertel-Millionen Jugendliche aus 44 Ländern teilnahmen.
Zu den Suchtsymptomen zählten:
die Unfähigkeit, die Nutzung sozialer Medien zu kontrollieren
Entzugserscheinungen bei der Nichtnutzung
die Vernachlässigung anderer Aktivitäten
negative Folgen im täglichen Leben
Als ich diese Zahl sah, habe ich mich gefragt, weshalb die Zahl so gering ist. Ich hätte eher gedacht, dass mindestens ein Viertel der Jugendlichen von suchtartigem Smartphone-Verhalten betroffen ist. Zeitgleich macht es aber auch doch Sinn. Die befragten Jugendlichen hatten ein Alter von 11 bis 15 Jahren. Und die Negativfolgen von suchtartigem Verhalten zeigen sich oft erst nach einer Weile.
Smartphone-Sucht: Was tatsächlich im Gehirn passiert
Süchte sind ein komplexes Thema und was dabei im Gehirn passiert, ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Dabei spielt der Botenstoff Dopamin im Gehirn eine zentrale Rolle. Dopamin wird ausgeschüttet, wenn eine Tätigkeit als belohnend erlebt wird. Künstliche exzessive Reize – wie Social Media - sorgen dafür, dass der Dopamin-Pegel im Gehirn unnatürlich häufig und unnatürlich stark ansteigt. Und mit der Zeit findet das Gehirn das, was irgendwann einmal für den „Kick“ gesorgt hat, nicht mehr ganz so aufregend. Die Höhen werden mit der Zeit weniger intensiv und die Lows mit der Zeit immer tiefer.
Die Negativfolgen von Süchten werden also meist erst im Verlauf der Zeit spürbarer. Kann es also sein, dass die Befragten der Studie noch so jung waren, dass die Negativfolgen erst bei einigen wenigen so deutlich waren, dass sie eindeutig klassifiziert werden konnten? Die Vermutung liegt nahe, dass die Zahl deutlich höher wäre, wenn man dieselben Jugendlichen ein paar Jahre später befragen würde – zumindest unter der Prämisse, dass es keine Verhaltensveränderung gab.
Dem digitalen Burn Out vorbeugen
Klar ist: Die meisten Menschen haben ihr Smartphone ständig dabei. Meist befindet sich das Gerät nicht mehr als einen Meter entfernt von uns. In Gruppen-Chats antwortet kaum noch jemand und die psychischen Belastungen steigen gesellschaftlich nachweislich an. Das zeigen zahlreiche Studien und Berichte von Krankenkassen. Viele von uns sind müde. Vielleicht sind wir nicht alle betroffen von Smartphone-Sucht, aber ich bin mir sicher: Es sind mehr als zehn Prozent.
Ob süchtig oder nicht: Ein kleines Selbstexperiment zur Reduktion der Smartphone-Nutzung kann für so gut wie alle zu einem kleinen Abenteuer werden.

Ich bin Katharina Hiller, Dozentin an der HTW Berlin, und Gründerin von BRAIN EXPLAIN. Ich beschäftige mich als Trainerin und Beraterin mit der Mental Health Prävention und ihren Einfluss auf Lern- und Entwicklungsprozesse - ab demnächst auch in der Forschung.
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